Skip to main content

Über den Sinn und Unsinn einer Zwangsernährungsberatung in einer veganen Schwangerschaft und wie "Frau" es richtig macht 

- Gastartikel von Carmen Hercegfi

"EXPERTEN WARNEN: Veganes Essen schädigt ungeborene Babies" war die fette Headline auf der Titelseite der BILD am Montag. Mein Telefon stand plötzlich nicht mehr still. Erst rief RTL bei mir an, dann die TAZ. Beide fragten nach Interviews. Außerdem erhielt ich zahlreiche Nachrichten per eMail, SMS und What's App sowie über meinen Blog und die Facebook Seite.

Besorgte vegane Mütter waren auf der Suche nach Antworten. Wie kann eine vegane Ernährung in diesen besonderen und sensiblen Lebensphasen gelingen?

 

Als Mutter, die selbst eine vegane Schwangerschaft erlebte und als Ganzheitliche Ernährungsberaterin, war ich plötzlich eine begehrte Ansprechpartnerin. Von der TAZ wurde ich nach meiner Meinung zu der Forderung der CDU-Politikerin Gitta Connemann nach einer Zwangsernährungberatung für vegane Schwangere befragt. Im RTL Aktuell-Beitrag wurde Frau Connemann als Ernährungsexpertin vorgestellt. Ein Blick in ihre Vita (Quelle: Wikipedia) verrät, dass die nette Dame von der CDU gelernte Schuhverkäuferin und studierte Juristin ist.

Aha...

Des Weiteren wurde die These aufgestellt, dass immer mehr Babies mit neurologischen Schäden zur Welt kämen. Es wird hier der Eindruck erweckt, dass dies auf eine vegane Schwangerschaft zurückzuführen wäre - ohne es explizit zu erwähnen. Schlau angestellt, denn mir ist keine Studie bekannt, aus der hervorgeht, dass die geschädigten Babies tatsächlich vegan ernährt wurden oder ob sich darunter auch Babies von Mischköstlern oder Vegetariern befanden. Hierzu wird keine Quelle genannt.

Tatsache ist…

…dass ein B12-Mangel zu neurologischen Schäden führen KANN. Tatsache ist auch, dass mit einer veganen Ernährung ohne B12-Supplemente mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann ein B12-Mangel vorliegen WIRD. Tatsache ist, dass vegane Eltern in der Regel bestens darüber informiert sind, dass B12 durch Nahrungsergänzung zugeführt werden MUSS. Eine weitere Tatsache ist, dass auch sehr viele Fleischesser unter einem B12-Mangel leiden - oft ohne es zu wissen. Der Grund liegt zum einen darin, dass B12 am meisten in den Innereien vorkommt, welche heute kaum noch konsumiert werden. Nicht zu vergessen die ernährungsbedingten Krankheiten des Verdauungssystems wie z.B. Gastritis (Magenschleimhautentzündung), durch die der notwendige Intrinsic Faktor, der das B12 zu den Zellen transportiert, nicht mehr gebildet wird.

Es ist also durchaus naheliegend, dass immer mehr Babies mit neurologischen Schäden zur Welt kommen. Ja, es klingt sogar einleuchtend. Der Sündenbock sind aber wieder einmal nur die Veganer. Dies wird auch solange so bleiben, wie die Verschleierungstaktik der wahren Probleme der Fehlernährung in den Industrienationen funktioniert.

Ich möchte an dieser Stelle aber noch einmal darauf hinweisen, dass bei veganer Ernährung einige Lebensmittelgruppen wegfallen und daher ein entsprechendes Wissen vonnöten ist. Eine Ernährungsberatung und/oder vernünftige Empfehlungen erachte ich aufgrund der bereits geschilderten Probleme für ALLE Eltern als überaus sinnvoll - nicht nur für Veganer!

Wie sieht eine korrekte Ernährung in einer veganen Schwangerschaft aus? Worauf muss "Frau" achten?

Unser Körper hat zwei Stoffwechsel zu versorgen: einen Erhaltungsstoffwechsel und einen Aufbaustoffwechsel. In der Schwangerschaft benötigt er dafür logischerweise mehr Nährstoffe. Schwangere müssen also nicht doppelt so viel sondern doppelt so gut essen. Der Körper holt sich, was er braucht. Doch wo nichts ist, lässt sich auch nichts holen.

In der Schwangerschaft ist der Bedarf an einigen Vitaminen und Mineralstoffen stark erhöht. Teilweise sind dies die gleichen Stoffe, die bei einer veganen Ernährung potentiell kritisch sind. Kritisch bedeutet, dass in dieser Bevölkerungsgruppe (hier z.b. die Veganer) ein Mangel häufiger auftritt als in der Allgemeinbevölkerung. Es bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass dem so sein muss - und schließt auch nicht aus, dass bei der Allgemeinbevölkerung ein solcher Mangel nicht auftauchen kann.

Aber es gilt daher natürlich besonders, diese Nährstoffe (erhöhter Bedarf in der Schwangerschaft kontra potentiell kritisch bei veganer Ernährung) im Auge zu behalten.

Diese sind:

  • Vitamin B2
  • Vitamin B6
  • Vitamin B12
  • Eisen
  • Jod
  • Zink
  • Omega-3-Fettsäuren (insbesondere DHA)

Weitere Nährstoffe, deren Bedarf erhöht ist, sind Vitamin A, Folsäure, Vitamin C und Magnesium. Es wird fast immer verschwiegen, dass Veganer i.d.R. mit Vitamin C und Folsäure besser versorgt sind als Mischköstler.

Gerade das Beispiel Folsäure führt die Diskussion um B12 ein wenig ad absurdum, denn die Folsäure wird allen Schwangeren oder bereits bei der Planung einer Schwangerschaft als Nahrungsergänzung verschrieben und empfohlen. Folsäure ist verantwortlich für Zellteilungs- und Wachstumsprozesse und reduziert das Fehlbildungsrisiko in der Frühschwangerschaft (bis zum 28. Tag nach der Konzeption!!!).

Sie befindet sich insbesondere in Weißkohl, Sauerkraut, Grünkohl, Rosenkohl, Fenchel, getrockneten Feigen, Brokkoli, Spinat, Feldsalat, Endivien, Tomaten, Apfelsinen, Erdbeeren, Weizenkeimen, Vollkorn-Produkten, Hülsenfrüchten und Sojamehl. Produkte, die mit einer abwechslungsreichen veganen Ernährung nach Vollwert-Prinzipien (https://www.ugb.de/ugb-verband/nachhaltige-ernaehrung/) regelmäßig gegessen werden.

Ob eine Nahrungsergänzung für vegane Schwangere mit Folsäure notwendig ist, mache ich persönlich in der Beratung immer davon abhängig, WO die Schwangere isst und WIE sie ihr Essen zubereitet, da Folsäure sehr empfindlich ist und der Gehalt sich bei falscher Lagerung und Zubereitung drastisch reduziert (um bis zu 70 %!!!).

Daher gilt: Gemüse und Salate frisch verzehren, dunkel lagern und unzerkleinert, aber gründlich unter fließendem Wasser waschen. Außerdem dünsten, dämpfen und die Garflüssigkeit mitverwenden. Nach zwanzig Minuten warmhalten sind im Essen weder Folsäure noch Vitamin C vorhanden - daher lieber abkühlen und aufwärmen.

Vitamin B12 muss, wie schon erwähnt, supplementiert werden. Bitte vermeidet typische Fehler. Welche das sind, könnt Ihr hier in meinem Blogartikel nachlesen: http://www.vegane-familien.de/vitamin-b12-und-vitamin-d-mangel-trotz-substitution-5-haeufige-fehler/

Vitamin B2 ist beteiligt an der Energiegewinnung, Krankheitsabwehr und Embryonalentwicklung. Es befindet sich in Nüssen, Samen, Hülsenfrüchten, Vollkornprodukten, Getreidekeimlingen, Avocado und Bananen. Bei diesem Vitamin gelten ähnliche Zubereitungsregeln wie bei der Folsäure.

Vitamin B6 ist beteiligt am Aminosäurestoffwechsel sowie an enzymatischen Reaktionen und befindet sich in Nüssen (Cashewkernen und Mandeln), Samen, Hülsenfrüchten, Vollkornprodukten, Getreidekeimlingen, Pilzen, Hefeflocken, Grünkohl und Brokkoli.

Bei Vitamin B2 und B6 erhöht sich im Keimprozess der Gehalt. Ich empfehle das Keimen in der Schwangerschaft jedoch nur erfahrenen Personen, da grundsätzlich die Gefahr einer Listeriose besteht, wenn falsch gekeimt wird.

Eisen ist nicht nur in einer veganen Schwangerschaft ein kritischer Nährstoff, sondern auch bei fast allen anderen „normalen“ Schwangeren. Ich hatte mich diesem Mineralstoff gleich zu Beginn meiner Bloggerarbeit ausführlich gewidmet. Den Artikel findet Ihr hier: http://www.vegane-familien.de/eisen-in-der-schwangerschaft/.

Jod ist Bestandteil der Schilddrüsenhormone, wichtig beim Wachstum und Energiehaushalt sowie für die fetale Gehirnentwicklung. Der Mehrbedarf in der Schwangerschaft liegt bei 15%. Quellen sind Jodsalz im Haushalt (ich nutze nie raffiniertes Salz, sondern in diesem Fall Meersalz mit jodhaltigen Algen) oder z.B. die Nori-Alge. Ein Blatt Nori enthält 50-80 µg Jod. Die Bioverfügbarkeit ist sehr gut. Bitte Vorsicht bei übermäßigem Jodkonsum während eines Jodmangels. Dadurch werden Schilddrüsenprobleme verursacht. Jod sollte weder unter- noch überdosiert werden. Bitte nie mehrere Kombi-Nahrungsergänzungspräparate parallel einnehmen.

Zink ist Co-Faktor zahlreicher (über 200!) Stoffwechselprozesse im Körper, bei der Herstellung von Kohlenhydraten, Fetten und Eiweißen und wichtiger Helfer für das Immunsystem. Der Mehrbedarf in der Schwangerschaft liegt bei 40 %. Pflanzliche Quellen sind Sojabohnen, Haferflocken, Linsen, Erdnüsse, Cashewkerne, Paranüsse und Keimlinge.

Die intestinale Aufnahme wird gefördert durch Proteine und Zitronensäure und gehemmt durch Phytate, Tannine, Ballaststoffe, Kalzium, Eisen und Kupfer. Daher bitte alle Hülsenfrüchte, Getreide und Nüsse einweichen/garen, rösten, fermentieren oder keimen.

Omega-3-Fettsäuren (insbesondere DHA) sind ebenfalls sehr wichtig für die (fetale) Entwicklung des Nervensystems. Vegane Quellen sind Leinöl, Hanföl, Walnussöl und Rapsöl. Ich empfehle Rapsöl als Hauptöl in der kalten Küche, da es über ein sehr gutes Verhältnis von Omega-6 zu Omega-3-Fettsäuren verfügt und verwende zusätzlich DHA-angereichertes Leinöl (1-2 EL pro Tag). „Frau“ sollte darauf achten, die Öle nur kalt zu verwenden und sie rasch zu verbrauchen, da auch die Omega-3-Fettsäuren sehr empfindlich sind.

Immer wieder Diskussionspunkt: Protein!

Nein, wir Veganer können ihn nicht mehr hören, diesen leidigen Satz: „Und woher bekommst Du eigentlich Dein Protein?“. Die beste Antwort dazu lieferte mir kürzlich auf dem veganen Straßenfest in Nürnberg die Kabarettistin Gabriele Busse: „Ha… vom Sperma“… Auf den Einwurf, dass dies ja auch nicht ganz vegan sei, kontert sie nur mit: „Na wenn’s das Tier freiwillig gibt.“ Herrlich! Ich hab selten so gelacht.

Nun aber Spaß beiseite. Was ist nun wirklich dran an der Proteingeschichte? Insbesondere im Wachstum benötigen vegane Klein- und Vorschulkinder mehr Protein (Quelle: UGB Forum). Natürlich muss auch während der Schwangerschaft und darüber hinaus auf eine ausreichende Versorgung geachtet werden. Pflanzliche Eiweißträger wie Getreide, Kartoffeln und Hülsenfrüchte sollten sinnvoll kombiniert werden, um die biologische Wertigkeit (https://de.wikipedia.org/wiki/Biologische_Wertigkeit) entsprechend zu erhöhen. Sinnvolle Kombinationen sind z.B.:

  •  Haferflocken, Erdnüsse, Sojamilch
  •  Roggen-Vollkorn-Sauerteigbrot mit Rote-Linsen-Aufstrich
  •   Spätzle mit Linsen

Kein erhöhter Bedarf bei Kalzium - jedoch zu beachten!

Kalzium ist Baustoff für Knochen und Zähne und wichtig für die Aufrechterhaltung der Bioelektrizität. In der Schwangerschaft ergibt sich kein Mehrbedarf. Die Empfehlung der DGE liegt bei 1.000 mg/Tag. Man geht jedoch aufgrund theoretischer Berechnungen davon aus, dass bei veganer Ernährung weniger Kalzium (etwa 700 mg/Tag) ausreicht (FAO, WHO 2004). Pflanzliche Quellen für Kalzium sind Sesam/Tahin (aber keine gute Bioverfügbarkeit), Mandeln und Mandelmus, Brokkoli, Fenchel, Grünkohl, Kichererbsen, Pflanzendrinks (Ca++) sowie kalziumhaltiges Mineralwasser (ab 300 mg/l)

Und was ist mit Vitamin D?

Weiterhin wichtig zu erwähnen ist Vitamin D. Immer wieder als Mangelnährstoff bei Veganern erwähnt, betrifft dieser Mangel jedoch bis zu 90% der Bevölkerung in Deutschland und sollte meiner Meinung nach bei allen Schwangeren untersucht werden, da ein Vitamin D-Mangel gravierende Auswirkungen haben kann. Der Bedarf an Vitamin D ist in der Schwangerschaft nicht weiter erhöht, weshalb es in meiner obigen Liste nicht aufgeführt ist. Es muss jedoch zumindest in den Wintermonaten nahrungsergänzend zugeführt werden. Außerdem empfehlen sich tägliche Spaziergänge im Sonnenlicht. Bitte beachten: Ab LSF 15 ist die Vitamin D-Bildung für viele Stunden blockiert.

Blutuntersuchung?

Ich empfehle einmal im Jahr einen Bluttest für alle Veganer - so auch für Kinder. In der Schwangerschaft sollte (abhängig vom Befund) ein einmaliger umfangreicher Bluttest ausreichen.

Beim VEBU erschien kürzlich ein guter Artikel dazu:

https://vebu.de/fitness-gesundheit/naehrstoffe/die-wichtigsten-naehrstofftests-fuer-vegan-vegetarisch-lebende-menschen/?utm_medium=email&utm_campaign=VEBU-16-07-03&utm_content=VEBU-16-07-03+CID_151aab5be08ba38b71e8a249d01250ff&utm_source=Newsletter%20Tool%20Campaign%20Monitor&utm_term=hier

Wer sich noch umfangreicher testen lassen möchte, sollte den Artikel von Martin Kamma (Allgemein- und Ernährungsmediziner) lesen: http://vegan-auf-rezept.blogspot.de/2016/02/der-ultimative-gesundheits-check-fur.html

Und wer mehr zu veganer Ernährung in der Schwangerschaft oder den folgenden Lebensphasen wissen möchte oder immer noch unsicher ist, kann mich gerne per eMail für eine Beratung kontaktieren: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Ein Ausblick auf die vegane Stillzeit und die

Ernährung im 1. Lebensjahr

In der Stillzeit ist der Bedarf an Nährstoffen noch weiter erhöht (außer Eisen). Wir Frauen haben dafür zwar ein paar Kalorien mehr zur Verfügung, sollten diese aber nicht mit Keksen decken (Anm.: Keks-Diät). Die richtige Ernährung in der Stillzeit ist fast noch wichtiger als die in der Schwangerschaft, denn einige Nährstoffe (z.B. wasserlösliche Vitamine und Jod) finden sich sonst nicht in der Muttermilch.

Die vegane Ernährung im 1. Lebensjahr ist noch relativ unkompliziert, wenn man sich mit den Prinzipien befasst. Aber ich möchte nicht zu sehr ausschweifen, da ich mich in diesem Artikel auf die vegane Ernährung in der Schwangerschaft konzentriere.

Ab dem Alter von etwa 1,5 Jahren, wenn die Kinder ihre Autonomie ausbilden und viele Lebensmittel ablehnen, bestehen größere und beachtenswerte neue Herausforderungen, um eine vegane Ernährung weiterhin möglich zu machen.

Mein Fazit:

Ja - man sollte sich auskennen, wenn man sich und seine Kinder vegan ernährt. Gerade in dem Dschungel veganer Ersatzprodukte, die verleiten und teilweise auch in falscher Sicherheit wiegen, ist es leicht möglich, die vegane Ernährung sehr einseitig umzusetzen.

ABER: Dies gilt genauso für alle anderen Mütter und Ernährungsformen.

Für mich gehört Ernährung als Schulfach (und nicht gesponsert von McDoof & Co.) etabliert. Eine vernünftige und ehrliche Aufklärung von Anfang an für ALLE Bevölkerungsgruppen und das gleichzeitige Einschreiten der Politik mit der Subventionierung von Bioprodukten statt von Massentierhaltung sowie eine Anpassung der Mehrwertsteuer (Pflanzendrinks sind noch immer mit 19% besteuert, Kuhmilch mit 7%)… Die Liste der Möglichkeiten ist endlos lang und wird wahrscheinlich dem ein oder anderen Unternehmen nicht gefallen. Aber die Entwicklung schreitet voran - unaufhaltsam!

Ich hoffe ich habe etwas Licht ins Dunkel gebracht. Derzeit arbeite ich zusammen mit Sarah (www.pflanzenhunger.de) fieberhaft an einem Ratgeber- und Kochbuch zu veganer Schwangerschaft und Stillzeit, welches 2017 beim Veganverlag Grüner Sinn erscheint.

Vielen lieben Dank für Eure Aufmerksamkeit bis an diese Stelle,

Eure Carmen

Diesen Artikel schrieb Carmen Hercegfi, Ganzheitliche Ernährungsberaterin für vegane Familien, Bloggerin, Autorin und zweifache, alleinerziehende Mutter (www.vegane-familien.de)

 

Vegan, Vegetarisch, Ernährung, Schwangerschaft